Marcel Hänggi, bevor wir auf dein neues Buch eingehen: Gab es einen Schlüsselmoment, der dich dazu brachte, vom Wissenschaftsjournalist zum Initiator der Gletscherinitative zu werden?
Ja. Ich nahm 2015 als Journalist an der Klimakonferenz von Paris teil. In einem Kommentar für die WOZ schrieb ich nach dem erfolgreichen Abschluss der Konferenz: Das Pariser Übereinkommen ist gut, aber man rettet die Welt nicht, indem man beschließt, sie dürfe nicht untergehen. Man muss das Beschlossene auch umsetzen. Der Kommentar endete mit den Worten: «Jetzt gilt es, den Schwung zu nutzen und das Versprochene einzufordern. Jetzt beginnt eine große Arbeit.» Einige Wochen später dachte ich: Ich habe keine Lust mehr zu schreiben, was «man» jetzt tun muss. Ich will es selber tun.
Was ist kurz zusammengefasst der Inhalt deines neuen Buches «Weil es Recht ist – Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung» und was wolltest du damit in erster Linie erreichen?
Ich untersuchte die schweizerische Bundesverfassung darauf, was sie in der Epoche schwerer Umweltkrisen – im Anthropozän – taugt. Und ich wollte Vorschläge machen, was zu verbessern wäre. Mein Hauptbefund lautet: Unsere Verfassung schützt die Umwelt verblüffend gut! Was natürlich zur Folgefrage führt: Warum schädigen wir die Umwelt denn trotzdem immer mehr?
Du schreibst, dass die Verfassung nicht nur Hand böte für die nötige Transformation, sondern – setzt man deren Bestimmung wirklich um – geradezu eine radikale Umgestaltung unserer Wirtschafts- und Lebensweise hin zu Nachhaltigkeit erfordere. Warum wird die Bundesverfassung nicht besser umgesetzt?
Vieles, was in der Verfassung steht, ist richtig und wichtig, aber abstrakt. Die Nachhaltigkeit hat einen sehr hohen Stellenwert, die Erhaltung der Lebensgrundlagen ist ein Zweck der Eidgenossenschaft. Aber das muss in Gesetzen, Verordnungen und schließlich im Vollzug dieser Gesetze und Verordnungen konkretisiert werden. Und da fehlt halt oft der Wille, Grundsätze, die niemand bestreitet, in konkrete Regeln zu übersetzen. Hinzu kommt, dass die Verfassung sagt, dass Beschlüsse des Bundesrats und des Parlaments nicht vor dem Bundesgericht angefochten werden können. Das Bundesgericht darf also nicht Verfassungsgericht sein. Und mehr noch: Die Gerichte müssen Bundesgesetze auch dann anwenden, wenn sie der Verfassung widersprechen. Das ist eine – sehr fragwürdige – Einzigartigkeit der Schweiz.
Die Schweiz kennt also gegenüber den Kantonen eine Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht aber – als einziges Land – auf Bundesebene. Inwiefern ist das ein Nachteil in Bezug auf die Klima- und Biodiversitätskrise?
Es ist ein großer Nachteil, denn die Gerichte können nicht einfordern, dass die Politik umsetzt, was in der Verfassung steht. Wie wichtig die Verfassungsgerichtsbarkeit sein kann, zeigt ein Entscheid, mit dem das Bundesgericht 1990 vom Kanton Appenzell Innerrhoden einforderte, die Bundesverfassung zu respektieren. Die rein männliche Landsgemeinde lehnte es ab, den Frauen das Stimmrecht zu gewähren. Dagegen legten Appenzellerinnen Beschwerde ein. Das Bundesgericht erklärte den Landgemeindeentscheid für verfassungswidrig und damit für ungültig. Seither sind auch die Innerrhoderinnen politisch vollwertige Bürgerinnen.
Soweit es um Menschenrechte geht, kennt die Schweiz übrigens auch ein Verfassungsgericht: den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR). Und bezüglich Klimapolitik hat er die Schweiz im April 2024 verurteilt – so, wie das Bundesgericht 1990 Appenzell Innerrhoden verurteilte. Statt diesen Entscheid aber ernst zu nehmen, haben Parlament und Bundesrat mit Empörung und Ablehnung reagiert.
An der Vernissage deines Buches sagte Helene Keller, Professorin für Völkerrecht an der Uni Zürich, dass die Reaktion auf das Urteil des EGMR zur Beschwerde der Klimaseniorinnen gegenüber der Schweiz ganz klar einen Gender Bias habe. Stimmst du mit dieser Aussage überein?
Ich halte das für plausibel. Die alten Frauen des Vereins Klimaseniorinnen, die man belächelt hat, gewinnen vor dem höchsten Gericht gegen die Schweiz: Das kränkt sicher den einen oder anderen Politiker in seinem Selbstverständnis.
Im Nachwort deines Buches sagt Daniel Graf von der Stiftung für die direkte Demokratie, dass sie an einer Initiative arbeiten für eine zeitgemäße Bundesverfassung. Ist dieses Vorhaben nicht obsolet, wenn die Bundesverfassung laut deiner Analyse schon gut genug ist, nur die Umsetzung mangelhaft?
Als ich mit Mitstreiter*innen die Gletscher-Initiative lancierte, sagte ich: Diese Initiative verlangt nur, dass wir umsetzen, wozu wir uns bereits entschieden haben. Eigentlich müsste sie also überflüssig sein. Aber gerade weil die Umsetzung mangelhaft ist, braucht es solche Initiativen. Allerdings gibt es natürlich auch bei angenommenen Volksentscheiden keine Garantie, dass Parlament und Bundesrat sie respektieren.
Du schließt das Buch mit der Erkenntnis, dass die Pfründe verteidigt werden würden - dass eine Transformation also ohne Kämpfe nicht geschehen werde. Kannst du das genauer ausführen?
Ich würde nicht von «Pfründen» sprechen … Aber ja, wir müssen verteidigen, was wir haben. Das Umweltrecht ist heute politisch unter Druck, wobei das Parlament weniger auf umweltrechtliche Bestimmungen abzielt als auf die Instrumente, mit denen die Bestimmungen umgesetzt werden können – wie etwa das Verbandsbeschwerderecht. Und wir müssen einfordern, was wir auf Papier schon haben, nicht aber in der Praxis. Die Bundesverfassung fordert die Erhaltung der Lebensgrundlagen. Aus den Wissenschaften wissen wir: Dazu braucht es systemische Transformationen. Es müssen die Grenzen des Planeten respektiert werden. Nimmt man das ernst, berührt das handfeste Interessen: Es gibt Leute und Unternehmen, die ihre Pfründen gefährdet sehen. Es wäre naiv zu glauben, dass sie diese Pfründen kampflos aufgeben.
Die letzte Frage: Wen sollen wir deiner Meinung nach als nächstes interviewen? Wer inspiriert dich?
Wenn wir schon vom EGMR-Urteil sprachen: Eine Klimaseniorin, die auf Jahrzehnte politischen Aktivismus – von Frauenrechten bis Klimaschutz – zurückblickt. Oder die Klimaseniorinnen-Anwältin Cordelia Bähr. Sie wurde kürzlich von Nature zu einer der zehn Personen «who helped shape science in 2024» gekürt.